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Seit über 150 Jahren Turmmusik in
Schlitz
Allsonntäglich erfreut uns der
Posaunenchor im Anschluß an den Gottesdienst vom Turm der
Stadtkirche herab mit Chorälen. Viele Menschen lauschen
der Turmmusik und stimmen sich in den Sonntag ein. Dies
geschieht mit Unterbrechungen seit nunmehr über 140
Jahren. Damals, genau am 1. März des Jahres 1857,
beauftragte Graf Carl von Schlitz den damaligen Kapellmeister
Wilhelm Reinhardt, den Vater unseres früheren
Bürgermeisters, das Choralblasen vom Kirchturm unserer
Stadtkirche aus durchzuführen.
Hans Blum, der spätere Chorleiter,
berichtete darüber im März 1957 im Schlitzer Bote.
In einem noch vorliegenden Schrifstück
von damals heißt es wörtlich:
1.) Die Musikanten haben täglich
morgens früh sowie Sonnabend abends, Christabend und
Sylvesterabend einen Choral vierstimmig mit geeigneten
Blechinstrumenten vom Turme zu blasen.
2.) Dieselben bedienen sich hierbei des
beiligenden Notensatzes und des nachstehenden Schemas.
Es folgen die für jeden Tag
vorgeschriebenen Choräle und zwar, Sonntag Lob- und
Danklieder, Montag Kreuz- und Trostlieder, Dienstag
Heiligungslieder, Mittwoch Lieder vom Worte Gottes und der
Kirche, Donnerstag Bußlieder, Freitag Passionslieder,
Sonnabend Lieder vom ewigen Leben und Sonnabend abends Ach
bleib mit Deiner Gnade. Für jeden Tag sind drei Lieder
angegeben, die im wöchentlichen Wechsel zu blasen waren.
Jeweils ein bestimmtes Lied ist für die kirchlichen Feste
vorgeschrieben.
Die Turmbläser waren außerdem
verpflichtet, in den Hauptgottesdiensten an den Festtagen das
Hauptlied zu begleiten. Für alle diese Dienste erhielt die
Kapelle Reinhardt vom Grafen Carl eine Vergütung von
jährlich 100 Gulden. Wir haben also Grund, dem
Schöpfer dieser schönen Sitte auch heute noch dankbar
zu sein. Allerdings scheint es schon vor dieser Zeit vom
Kirchturm Choralblasen gegeben zu haben, das wahrscheinlich zu
den Aufgaben des Turmwächters zählte. Die
Kirchenchronik sagt darüber folgendes: Derselbe hat jeden
Morgen, mittags um 11 Uhr, auch sonntags beim Auszug aus der
Kirche und abends einen Choral zu blasen, mittags meistens eine
Arie oder einen Marsch. Einer seiner Leute blies auch nachts
die Stunde vom Turm ab.
Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
konnte die vom Grafen Carl vorgeschriebene Ordnung eingehalten
werden. Andere Aufgaben, die der Kapelle Reinhardt
übertragen wurden, machten es unmöglich, noch
täglich vom Kirchturm zu blasen. Das geschah von da ab nur
noch am Samstag abend und am Sonntag früh. Trotz der
Schwierigkeit zweier Weltkriege mit ihren Folgeerscheinungen
war man dieser Ordnung treu geblieben. Viele der älteren
Schlitzer werden sich noch gerne jener Zeit erinnern, da am
Samstag abend, als sich schon die vorsonntägliche Stille
über unser Städtchen ausbreitete, die vertrauten
Klänge der Ach bleib mit Deiner Gnade vom Turm hernieder
schwebten.
Als die letzten Bläser, Georg und
Philipp Sippel, Heinrich Reinhardt, der 62 Jahre lang diesen
Dienst getan hat, und Valentin Hahn, in ein Alter kamen, in dem
ihnen der Aufstieg auf den Turm immer schwerer wurde, und zudem
einer der Musiker noch einen schweren Unfall erlitt, schien das
Ende der Turmmusik gekommen zu sein. Man versuchte zwar, an
einem heiligen Abend mit jüngeren Bläsern die alte
Tradition noch einmal aufleben zu lassen, doch blieb es bei
diesem Versuch.
So war es für die nächste Zukunft
und auch am Christabend auf dem Kirchturm still. Sollte damit
diese alte, liebgewordene Sitte endgültig verschwunden
sein? Nach Lage der Dinge, kurz nach Ende des letzten Krieges,
war hier nichts mehr zu erhoffen.
Ein Rußlandheimkehrer, der sich in
den weiten Rußlands nach den Klängen vom
heimatlichen Kirchturm besonders gesehnt hatte, gab seiner
großen Enttäuschung in einem Beitrag im Schlitzer
Bote Ausdruck. Nachdem er hörte, daß es an den
notwendigen Instrumenten fehle, ebenso an Notenmaterial, legte
er mit einer kleinen Spende von fünf Mark sozusagen den
Grundstock für ein Wiedererstehen der Turmmusik. Der
damalige Kirchenvorsteher Hans Blum wurde initiativ, rief zu
Spenden auf und hatte damit Erfolg. Es konnten Instrumente
gekauft werden, und ebenso der Versuch, junge und auch einige
ältere Menschen zum Choralblasen zu gewinnen, gelang.
Am 23. September 1951 stand der neue,
eigentlich der erste Posaunenchor der Gemeinde, zum ersten Male
wieder auf dem Kirchturm und blies über unsere Stadt
Allein Gott in der Höh sei Ehr. Hans Blum schrieb damals:
Wer von den großen Schwierigkeiten wußte, hat
diesen Choral mit tiefer Dankbarkeit und Ergriffenheit in sich
aufgenommen. In Verbindung mit dem CVJM (Christlicher Verein
junger Männer), dessen Leiter, Bundes-Posaunenwart
Römer, die jungen Schlitzer Bläser tatkräftig
unterstützte, konnten die ersten Hindernisse
überwunden werden. Welches Ansehen der Schlitzer
Posaunenchor bald genoß, beweist, daß bereits 1955
das Landesposaunenfest nach Schlitz vergeben wurde, an dem eine
ganze Reihe Posaunenchöre aus Hessen teilnahm.
Hans Blum übernahm als vollkommen Musik-Unkundiger den
Chor. Er nahm an einem Chorleiter-Lehrgang teil und war danach
in der Lage, mit dem erarbeiteten Wissen fast 15 Jahre lang den
Chor zu leiten.
Mitte der sechziger Jahre übernahm
Georg Saurwein den Chor, der heute von dem Kantor der Ev.
Gemeinde, Jörn Albrecht, mit viel Erfolg geleitet wird.
Jeden Sonntag morgen ertönen die
Choräle vom Turm, nach allen Seiten hin geblasen, und an
den Festgottesdiensten wirkt der Chor in der Kirche mit,
gemäß den Worten, die Posaunenwart Römer damals
bei der Gründung den jungen Bläsern mit auf den Weg
gab: Seht zu, daß die Stimme Gottes über Eurer Stadt
nie mehr verstummt!
Diese Mahnung sollte Leitspruch der
Bläser und der ganzen Gemeinde für alle Zukunft sein.
Gleichzeitig aber soll dieser Rückblick Anlaß
bieten, jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, dem
Posaunenchor beizutreten, dort mitzuwirken, damit die oben
erwähnte Mahnung nicht vergessen wird.
Ernst Decher
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Ein weiteres Dokument aus der
Gründerzeit ist der nachfolgende Leserbrief vom 25.
März 1950:
Der in der vorigen Nummer des
"Schlitzer Bote" eingesandte Artikel schloss mit dem
Wunsche, dass am nächsten Heilgabend die vertrauten
Weihnachtsweisen vom Kirchturm wieder ertönen mögen.
Ich bin dem Einsender dankbar, dass er
diese Sache einmal vor der Öffentlichkeit angeschnitten
hat. Ich kann ihm aber auch gleich verraten, dass, wenn es beim
Wünschen und Bedauern bleibt, die vertrauten Weisen nie
wieder vom Kirchturm gehört werden. Es geht ja hierbei
nicht nur um das Turmblasen am Heilgabend, sondern auch um das
Choralblasen am Wochenende und Sonntag früh. Dieser Dienst
ist allerdings ein Stück Verkündigung und solcher
kann nur da geschehen, wo die nötige Opferbereitschaft
vorhanden ist. Man kann mit diesem Dienst weder Geld verdienen,
noch besondere Ehre einheimsen. Es muss deshalb mit besonderem
Dank derer gedacht werden, die jahrelang bis ins hohe Alter bei
jeder Witterung jeden Samstag abend und sonntags früh die
hohen und nicht ungefährlichen Treppen unseres Kirchturmes
erstiegen haben, um ihren Dienst zu tun. Wie viel hierbei
improvisiert werden musste, wissen nur die unmittelbar
beteiligten. Nun können aber die alten Bläser nicht
mehr. Man hat ja nun auch schon trotz mancherlei
Schwierigkeiten versucht, die alte schöne Sitte
fortzusetzen. Die Versuche befriedigten aber nicht und mussten
schließlich infolge unüberwindlicher Schwierigkeiten
wieder ganz aufgegeben werden. Von all den intensiven
Bemühungen, Besprechungen und Verhandlungen um eine
Möglichkeit zu finden, doch wieder zu einer Turmmusik zu
kommen, kann weder die Öffentlichkeit noch der Einsender
des erwähnten Artikels etwas wissen.
Was vor allem fehlt, sind brauchbare
Instrumente, für die zu beschaffen, erhebliche Mittel
notwendig sind. Es gibt Dörfer unserer näheren
Umgebung, die aus freiwilligen Spenden einige Tausend DM
für neu zu beschaffende Glocken aufgebracht haben. Man
sollte nun meinen, dass eine so grosse Gemeinde wie Schlitz,
der diese Anschaffung erspart blieb, die nötigen Mittel
für einen Posaunenchor beschaffen könnte, zumal man
das Choralblasen weithin schmerzlich vermißt. Ich hatte
mich für den Plan eingesetzt, einen Posaunenchor ins Leben
zu rufen, der nur für kirchliche Musik in Frage kommt. Die
dafür benötigten Bläser, die zum Teil allerdings
noch ausgebildet werden müssten, stehen zur
Verfügung. Die Verwirklichung hängt nur von der
Beschaffung der unbedingt notwendigen Instrumente ab. Ich
möchte deshalb an alle einmal die Frage richten: "Wer
ist bereit mit seinem Opfer mitzuhelfen, dass die alte
schöne Sitte des Turmblasens bald wieder fortgesetzt
werden kann?!"
Hans Blum
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Erschienen am 5. März 2008 im
Schlitzer Bote:
Die Pflichten des Schlitzer Türmers
Eine Ergänzung zum 150-jährigen
Jubiläum des Turmblasens in Schlitz
Mit Oberpfarrer Hermann Knodt besaß
die Ev. Kirchengemeinde unserer Stadt in den Zwanziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts einen Oberpfarrer, der nicht nur
sein Kirchenamt hervorragend verwaltete, sondern auch als
Heimatforscher, Heraldiker und Mitbegründer unseres
Heimatmuseums bis über die Grenzen unserer engeren Heimat
hinaus bekannt wurde.
Insbesondere die Vergangenheit unserer
Stadt lag ihm am Herzen und die Ergebnisse seiner Forschungen
fanden im "Schlitzer Bote" ihren Niederschlag.
So veröffentlichte Oberpfarrer Hermann
Knodt 1920 in unserer Zeitung einen Beitrag, der
ausführlich die diesbezüglichen Verordnungen
darlegte, die damals "herrschaftlich, also gräflich,
städtisch und kirchlich waren". Danach lebte der
Turmmann in einer Stube, die laut Knodt "heute noch
vorhanden ist“. Hier versah er sein Amt, bei Tag und
Nacht und bei jedem Wetter und hielt wachsam Ausschau zum
Schutze der Stadt. Für seine Pflichten gab es eine
bestimmte Ordnung, die im Jahre 1783 in einem Ratsprotokoll neu
festgelegt wurde. Diese Ordnung gibt ein anschauliches Bild
über die Tätigkeit des Turmmannes, aber auch
über das damalige Leben in unserer Stadt. Das
Ratsprotokoll legte folgende Tätigkeiten fest:
1. Er soll zu Mitternacht 12 Uhr, Sommer-
und Winterzeit die Wacht auf dem Kirchturm antreten und richtig
versehen, alle und jede Stunde mit der Trompete anzeigen, im
Sommer bis 3 Uhr und im Winter bis 4 Uhr.
2. Er soll die gnädige Herrschaft
(gräfliche Familie), etwa wenn sie verreist gewesen und
wieder angelangt, als auch fremde Herrschaft und alles andere
zu Pferde reitende, es seien viele oder wenige, mit der
Trompete, wie viele Pferde sie haben oder ihrer sind, anmelden.
3. Er soll die hergebrachte Zeit und
Stunde, des Winters um 4 Uhr, des Sommers um 3 Uhr, vormittags
um 8 Uhr, mittags um 11 Uhr und nachmittags um 3 Uhr, jedoch
das letztere nur von Ostern bis Michaelis, um zu Abend um 8
Uhr, mit seinen Gesellen das Abblasen selbdritt zu versehen,
schuldig sein.
4. Er soll die schlagende Uhr in gutem
Gange erhalten.
5. Er soll die Musik in der Kirche ab Sonn-
und Feiertagen, einen um den anderen Vers auf Posaunen
mitblasen.
6. Er soll in Kriegszeiten alles, was
desfalls wegen der Wacht nötig zu präsentieren
(leisten) gehalten sein.
7. Er soll, etwa wenn er auf dem Lande eine
Kirchmesse zu spielen hatte, die Tage- und Nachtwache
wenigstens durch einen Mann versehen lassen.
8. Bei Ehrengelagen weder alte noch junge
Leute in Präsentation (Leistung) des Gebens angehen.
Dann wird in der Ordnung noch angegeben,
welches Gehalt der Türmer für alle diese Leistungen
erhäŠlt. Dass das in jener Zeit zum großen Teil
aus Deputatleistungen bestand, zeigt die entsprechende
Aufstellung, ihm wurden zugestanden: Ein Drittel Klafter
Brennholz, ein Schwein, frei zur Mast, zwei Maß …
zur Nachtwach, ein Gemaß Garten in der Stadt. An Bargeld
erhielt der Turmmann wenn er spielt von jedem Tag einen Gulden.
Darüber hinaus standen ihm 6 Gulden im Jahr aus dem
Gotteskasten (Kirchenkollekte) zu. Darüber hinaus zahlte
ihm die Stadt Schlitz 3 Gulden im Jahr.
Soweit die Angaben aus dem betr.
Ratsprotokoll. Zusätzlich ist zu erwähnen dass der
Turmwächter zugleich der privilegierte Stadtmusikus war,
der jeden Sonntag mit seinen Gesellen den Choral mit Posaunen
begleitete und auch bei Ehrengelagen, Hochzeiten und sonstigen
Festlichkeiten die Musik machte. Wie aus Punkt vier des
Ratsprotokolls zu ersehen ist, soll der Turmmann die schlagende
Uhr in gutem Gang halten. Das bedeutet, so Oberpfarrer Knodt,
dass unsere Kirche zu dieser Zeit eine Uhr besaß, die
wahrscheinlich stündlich die Zeit angab. Heute besitzt die
Kirche keine Uhr mehr. Wann möge diese wohl ihre letzte
Stunde geschlagen haben? Und, so schließt Oberpfarrer
Knodt, wann mag der Türmer seinen letzten Dienst getan
haben?"
Das geschah im Jahre 1840, als der
Türmer Johann Georg Hess starb und anscheinend kein
Nachfolger zu finden war. Erst 17 Jahre später, im Jahre
1857, machte Graf Carl diesem Zustand ein Ende durch einen
neuen Dienstvertrag und mit diesem Vertrag begann das Blasen
vom Turm wieder. Dieses Datum war Anlass, das nunmehr
150-jährige Bestehen der Turmmusik in würdiger Weise
zu feiern.
Entsprechende Beiträge im
"Schlitzer Bote" und in einer hervorragend
gestalteten Festschrift, einem Festgottesdienst sowie einem
hervorragendem Konzert würdigten dieses Jubiläum, in
dessen Mittelpunkt der Posaunenchor stand, der in seiner
heutigen Besetzung eine wertvolle Bereicherung des kirchlichen
Lebens darstellt.
Ernst Decher
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